Stephan Tchen über den Wert von Freizeit.

Vor einigen Tagen kaufte ich mit meiner Freundin in einer Supermarktkette ein. Als wir das Geschäft verliessen, verpassten wir leider unseren Bus. Irgendwie ärgerten wir uns aber gar nicht darüber. Ungewohnt liess uns das kalt, genau so kalt wie das Wetter draussen. Deshalb gingen wir zurück und warteten im warmen Supermarkt, sitzend auf einer kleinen Bank. Von da aus konnte man die zahlreichen Kassen sehen.

Eigentlich hatten wir vor, nur zehn Minuten zu bleiben, um dann mit dem nächsten Bus nach Hause zu fahren. Es geschah jedoch etwas, was man eher selten sieht. Etwas Verständliches, dennoch auf eine Art und Weise unterhaltsam.

Kommen wir zum eigentlichen Thema:

An der Kasse sahen wir eine ca. 40-jährige Frau, die drei gleiche Kleiderstücke in der Hand hielt. Wie wir hörten, war der Preis pro Kleidungsstück CHF 19.95. Auf dem Zettel war es aber abgeschrieben auf CHF 14.95. Die Frau hielt einen langen Dialog mit der Kassiererin. Die Kassiererin argumentierte damit, dass lediglich die Preise vertauscht wurden. Die Frau beharrte trotzdem auf ihrem Preis: „Wenn etwas angeschrieben ist, ist es verbindlich. Ich werde nicht mehr als den angeschriebenen Preis bezahlen.“ Schliesslich musste der Filialleiter eingreifen. Die Diskussion zog sich beinahe über eine halbe Stunde dahin. Die Frau bekam schlussendlich die Kleidungsstücke zu ihrem Preis, hauptsächlich weil der Filialleiter wegen einer Kleinigkeit kein Drama machen wollte.

Als die Kundin gegangen war, schüttelte der Filialleiter den Kopf: „Wegen fünf Franken pro Kleidungsstück würde ich kein Theater machen!“

Da bin ich gleicher Meinung. Was mich aber mehr beschäftigte, war der Gedanke der Kundin. Zuerst dachte ich mir, ich hätte dasselbe gemacht wie sie. Je länger ich aber darüber nachdachte, desto eher tendierte ich dazu, dass ein solches Verhalten ökonomisch unprofitabel ist.

Sie hat die Argumentation zwar „gewonnen“ und somit CHF 15 gespart. Das hatte aber auch seinen Preis, nämlich 30 Minuten ihrer Zeit. Diese Frau war bereit, 30 Minuten ihrer Freizeit für CHF 15 zu opfern. Man könnte es auch so sehen: Sie schätzt den Wert ihrer Freizeit pro Stunde auf höchstens CHF 30 ein.

Ich stellte mir selbst die Frage: „Würdest du 30 Minuten deiner Zeit für CHF 15 opfern?“ In meinem Fall würde das heissen, 30 Minuten weniger Zeit mit meiner Freundin verbringen, dafür CHF 15 verdienen. Für mich hat die Freizeit einen höheren Wert als ein bisschen Geld. Ein Familienvater würde auch nie „Ja“ sagen, da ihm die Zeit mit seiner Familie einfach wichtiger ist.

Wenn ich nicht argumentieren und den Preis einfach akzeptieren würde, wäre ich 30 Minuten früher zu Hause. In dieser Zeit hätte ich schon fertig gekocht, ein bisschen fürs Studium gelernt oder einfach eine Folge Stromberg geschaut. Ich könnte mir nicht vorstellen solche Dinge gegen CHF 15 einzutauschen.

Das heisst aber nicht, dass ich in dieser Situation nichts unternehmen würde. Es ist natürlich nie vorhersehbar wie lange eine solche Diskussion dauern wird. Ein Argument für ihre Hartnäckigkeit hat diese Frau auf jeden Fall. Wenn sie schon so weit ist, warum sollte sie nachlassen? Das wäre ähnlich, wie wenn man zwei Stunden vor dem Eiffelturm anstehen und bei einer geschätzten Wartezeit von noch einer Stunde aus der Warteschlange treten würde.

Was macht man nun in einer solchen Situation?

Ich würde einfach versuchen den Preisnachlass bei der Kassiererin geltend zu machen. Wenn sie ablehnt, lasse ich es sein. Wenn ich mit dem Preis nicht zufrieden bin, lasse ich es auch sein und kaufe den Artikel nicht.

Objektiv gibt es keinen richtigen Weg. Vielmehr hängt es von individuellen Faktoren ab.

Was würden Sie machen? Ist Ihre Freizeit Ihnen mehr wert als CHF 30 pro Stunde? Würden Sie auf die Entscheidung des Filialleiters warten um CHF 30 zu sparen oder den Laden verlassen? Weshalb?

 
Veröffentlicht am 10.06.2013
Autor: Dieser Beitrag wurde von Stephan Tchen verfasst.